Google und NRW: Wenn (digitale) Bildung zur Einbahnstraße wird
Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen will ihre Bürgerinnen und Bürger fit machen für die KI-Zukunft – mit kostenlosen Schulungen von Google. Doch hinter der netten Fassade steckt ein gefährliches Missverständnis: Wer Bildung auslagert, lagert auch Verantwortung aus. Denn was hier als Fortschritt verkauft wird, ist in Wirklichkeit ein pädagogisches Trojanisches Pferd. Unter dem Deckmantel der Weiterbildung zieht ein Tech-Konzern in unseren öffentlichen Raum ein – und übernimmt dort, was eigentlich Aufgabe der Gesellschaft wäre: die digitale Bildung.
Ein kritischer Blick auf die neue KI-Initiative und was sie über die digitale Souveränität in Deutschland verrät
1. Worum geht es?
Im Juli 2025 gaben Google und das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) ihre Partnerschaft bekannt: Im Zentrum stehen „Google Career Certificates“ und neue Lernmodule zur Künstlichen Intelligenz im Rahmen der Google Zukunftswerkstatt. Ziel: Menschen in NRW fit für die KI-Wirtschaft machen – mit 5.000 kostenlosen Kurslizenzen.
2. Digitale Souveränität? Fehlanzeige! Denn Anspruch und Realität klaffen weit auseinander
Deutschland und die EU verfolgen das Ziel, digitale Souveränität zu erreichen. Das bedeutet nicht nur, unabhängige IT-Infrastrukturen zu fördern, sondern auch Bildung, Datenverarbeitung und Wertschöpfung nicht dauerhaft an außereuropäische Anbieter zu binden. Mit Initiativen wie dem EU AI Act, dem OpenEuroLLM-Projekt oder Gaia-X geht Europa den mühsamen, aber notwendigen Weg in Richtung Eigenständigkeit.
Doch ausgerechnet öffentliche Institutionen – hier das Land NRW – verbünden sich nun mit einem der größten, profitorientierten US-Tech-Konzerne, um Bildungsangebote auszurollen, die auf proprietären Technologien basieren. Wir schaffen es nicht selbst – also lassen wir es jemand anders machen. Und dieser jemand ist kein gemeinnütziger Verein, sondern ein Konzern mit Quartalszielen, Marktinteressen und globalen Expansionsstrategien.
Wenn der Staat Bildung mit einer derart marktdominanten Plattform verknüpft, stellt sich die Frage: Bilden wir wirklich für ein freies, souveränes Europa aus – oder bereiten wir Arbeitskräfte systematisch darauf vor, sich langfristig in ein US-Ökosystem einzufügen?
3. Kostenlos, aber nicht umsonst: Wettbewerbsverzerrung made by Google
Natürlich klingen 5.000 Gratisplätze gut – gerade für kleinere Unternehmen, die händeringend nach Fachkräften suchen. Aber Bildung ist kein Sonderangebot. Wer heute „kostenlos“ lernt, zahlt morgen mit Daten, Abhängigkeit oder dem Verlust technologischer Eigenständigkeit.
Und was ist mit den vielen deutschen und europäischen Bildungsanbietern, die auf Offenheit, Datenschutz und Gemeinwohl setzen? Sie können mit Googles Reichweite und Gratisstrategie nicht konkurrieren – und werden still verdrängt, bevor sie überhaupt Fuß fassen.
Kostenlose Angebote von Big Tech wirken auf den ersten Blick sozial und hilfreich – insbesondere für kleine Unternehmen und benachteiligte Zielgruppen. Aber sie verzerren auch den Markt:
- Sie schaffen eine Abhängigkeit von bestimmten Tools, Plattformen und Logiken (z. B. Google Ads, Google Cloud, Google Workspace).
- Deutsche Anbieter, die oft kleinere Budgets haben und auf Datenschutz & Interoperabilität setzen, werden verdrängt, bevor sie überhaupt Chancen zur Skalierung haben.
- Die langfristigen Kosten für Gesellschaft und Staat – etwa durch fehlende Alternativen, Know-how-Verlust und Datenabfluss – bleiben unsichtbar.
Die Frage ist nicht, ob Googles Angebot „gut gemeint“ ist – sondern welche Struktur es schafft. Und diese Struktur ist ein geschlossenes, gewinnorientiertes System, das seine eigene Nachfrage mit Bildung bedient.
4. Vom Lehrplan zur Produktpipeline
Schaut man genauer hin, wird klar: Wer an den kostenlosen Kursen teilnimmt, lernt nicht einfach nur KI-Grundlagen – sondern lernt mit Google-Produkten, auf Google-Plattformen, nach Google-Logik. Wer seine Zertifizierung abschließt, hat nicht nur Know-how erworben, sondern sich gleichzeitig in ein Ökosystem eingeklinkt, das bewusst auf Abhängigkeit statt Offenheit setzt.
Es ist, als würde Coca-Cola kostenlose Ernährungsberatung in Schulen anbieten – und dort vor allem erklären, wie gut Zucker ist, wenn man ihn richtig dosiert.
5. Was bedeutet das für Bildung und Gesellschaft?
Ein weiterer Punkt, der zu wenig diskutiert wird, ist die inhaltliche Steuerung: Welche Werte, Perspektiven und Weltbilder werden in den Google-Kursen vermittelt? Welche KI-Tools werden bevorzugt? Welche Narrative über Arbeit, Effizienz und Innovation dominieren?
Wenn ein einzelner Anbieter sowohl die Werkzeuge als auch die Bildung darüber kontrolliert, verengt sich der Denkraum. Kritisches Bewusstsein, technologische Diversität oder ethische Alternativen könnten unterrepräsentiert bleiben – zugunsten eines sehr betriebswirtschaftlich geprägten Verständnisses von KI.
Bildung sollte zur Mündigkeit führen, nicht zur Markentreue. Und das bedeutet: Es braucht Vielfalt, Offenheit und institutionelle Kontrolle – keine Blackbox-Zertifikate von Konzernen.
6. Nötig ist eine souveräne, faire Bildungsstrategie
Die Google-NRW-Initiative mag kurzfristig hilfreich erscheinen – sie bringt Aufmerksamkeit, Ressourcen und Zugang zu praxisnahen Inhalten. Aber auf lange Sicht trägt sie dazu bei, die digitale Abhängigkeit Europas zu zementieren. Das ist das Gegenteil von Resilienz und Souveränität.
Wenn Deutschland und die EU es ernst meinen mit digitaler Selbstbestimmung, dann braucht es:
- öffentliche Investitionen in offene Bildungsinfrastrukturen
- echte Kooperationen mit europäischen KI-Unternehmen und Open-Source-Initiativen
- Qualifizierungsangebote, die nicht an ein Konzern-Ökosystem gebunden sind
- und vor allem eine Debatte über technologische Machtverhältnisse in der Bildung
Bildung ist kein PR-Instrument. Wer sie zur Einbahnstraße in Richtung Google macht, verspielt einen zentralen Hebel für digitale Selbstbestimmung – und setzt auf kurzfristige Bequemlichkeit statt auf langfristige Unabhängigkeit.
Verantwortung braucht Weitblick
Ob bei Gesundheitsdaten, Cloud-Infrastruktur oder nun der digitalen Weiterbildung – der Staat macht es sich oft zu einfach: Statt eigene Strukturen zu fördern, nimmt er die Angebote der Tech-Giganten gerne an. Dabei ist Bildung kein Dienstleistungsvertrag, sondern ein demokratisches Versprechen.
Was wir brauchen, ist ein starker öffentlicher Bildungsraum, der offen, vielfältig und technologieunabhängig ist. Einer, der Menschen zu souveränen Gestaltern macht – nicht zu Nutzerinnen und Nutzer im goldenen Käfig. Sonst endet Bildung dort, wo sie eigentlich anfangen sollte: bei der Freiheit, selbst zu denken!
Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie soll Menschen stärken, nicht Abhängigkeiten vertiefen. Bildung ist der Schlüssel zu einer zukunftsfähigen, demokratischen Gesellschaft – gerade im Zeitalter von KI.
Apell an alle politische Kräfte in anderen Bundesländern, die diesem Negativ-Beispiel nur allzu gerne folgen würden: Überlasst Bildung nicht länger der Logik von Big Tech, sondern übernehmt Verantwortung: Für Fairness, für Unabhängigkeit und für echte Wahlfreiheit in der digitalen Welt!
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